Fragestellungen von Hybrid-Bibliotheken
Oder: Bericht von der 4. InetBib-Tagung an der Universität Oldenburg
Unter dem Motto "Bücher, Bytes und Bibliotheken - Integrierte Informationen im Internet" fand vom 3.-6. März 1998 die 4. InetBib-Tagung in Oldenburg statt. Veranstalter war wie in den letzten Jahren in Dortmund, Potsdam und Köln die UB Dortmund - diesmal zusammen mit dem Team des Bibliotheks- und Informationssystems der Carl von Ossietzky-Universität in Oldenburg. Die dreitägige Tagung lockte mehr als 350 Teilnehmer sowie 38 Aussteller in den an diesen Tagen überhaupt nicht kühlen Norden der Republik. Sie kann aus Teilnehmersicht wieder als eine gelungene Mischung von Fortbildung, Fachdiskussion und sozialem Ereignis zusammengefasst werden.
Die eigentliche Tagung, die von Donnerstag Vormittag bis Freitag Nachmittag ging und insgesamt 24 Redebeiträge in 5 thematischen Blöcken umfasste, wurde von weiteren Fachveranstaltungen am Mittwoch und Samstag eingerahmt. Der Mittwoch bot Gelegenheit, in vier parallelen Tutorials Einführungen in die folgenden Themen zu bekommen:
- Von HTML zu XML: Standards, Editoren, Beispiele
- Anleitung zur Erstellung von interaktiven Webseiten
- Zur Praxis des elektronischen Publizierens an der Hochschule: Textformate, Grafikformate, Konvertierung
- Gute Seiten, schlechte <Internet-; Anm. d. Verf.>Seiten
Die schon am Mittwoch angereisten Teilnehmer konnten zur Einstimmung am Donnerstag morgen an Besichtigungen entweder der Mediathek, Medienproduktion und Multimedia-Werkstatt der UB, der elektronischen Dienstleistungen des BIS Oldenburg, der Stadtbibliothek Oldenburg oder der Landesbibliothek Oldenburg teilnehmen.
Über 60 Teilnehmer am Samstag die Möglichkeit, sich an einer Exkursion an die UB Groningen zu beteiligen, um die dortige elektronische Bibliothek zu besichtigen.
Rundum wurde ein fachlich interessantes Programm geboten, das insbesondere am Donnerstag abend mit einer kleinen Wanderung unter Einbeziehung des landesüblichen Boselns (und Schnapstrinkens) sowie einem großen Fest in der UB Oldenburg mit Kohl und Pinkel, A capella-Gesang und Disco bis in den frühen Morgen angereichert wurde (Motto: "Kohl und Pinkel statt Bits und Bytes" und "Tanz um den Katalog statt Cybersex").
Die Tagung war nahezu perfekt organisiert und finanzkräftig von den Ausstellern gesponsert, die es ermöglichten, dass während der ganzen Tagung im Tagungszentrum für das leibliche Wohl der Teilnehmer und die entgeltfreie Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel gesorgt war. An dieser Stelle ein großes DANKESCHÖN aus Teilnehmersicht an die großzügigen Sponsoren.
Für die Teilnehmer stand - anders als bei den früheren InetBib-Tagungen - kein vorläufiger Tagungsband, sondern ein Abstract-Heft zur Verfügung. Der Tagungsband mit den eingefügten Diskussionsbeiträgen auch der Tagungsteilnehmer kann ab Mai / Juni von der UB Dortmund bezogen werden.
Die Tagung wurde inhaltlich eröffnet von Hermann Havekost, dem spiritus rector und Leiter des BIS Oldenburg. In seinem Beitrag positionierte er die Bibliothek und ihre Mitarbeiter in mehrfacher Hinsicht in der Kette "zwischen Schreiben und Lesen" und formulierte Facetten des Programmes, das er zusammen mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Oldenburg realisiert hat: die Bibliothek als Ort, in dem Literatur beschafft, erschlossen und bereitgestellt wird - gleich ob sie gedruckt oder elektronisch aufbereitet vorliegt; die Bibliothek als Verlag; die Bibliothek als Archivierungseinrichtung gedruckter und elektronischer Publikationen; die Bibliothek als ein Zentrum des wissenschaftlichen Diskurses und universitären Lebens. In diesen Aufgabenstellungen liege die Zukunft der Bibliothek.
Entsprechend waren die Themen- bzw. Vortrags- und Diskussionsblöcke auch tituliert: "Integration von Informationen und Diensten", "Elektronisches Publizieren an der Hochschule", "Kosten und Nutzen von Konsortialverträgen für elektronische Zeitschriften" oder auch "Kommunikation: vom Diskutieren und Chatten". Die aus früheren InetBib-Tagungen weitergeführte Konzeption, nach dem Abschluss aller Vorträge des jeweiligen Blocks eine Diskussionsphase einzubauen, bei der alle Vortragenden dem Publikum Rede und Antwort stehen, hat sich dabei wieder bewährt.
Wie die Intergration von Informationen und Diensten in den Niederlanden und in Großbritannien versucht wird, zeigten Erik Jan Yntema (Leiden) und Stephen Pinfield (Birmingham) auf. Dieser sehr begrüßenswerte Blick über die Landesgrenzen verdeutlichte, wie vielfältig die Lösungsansätze dort sind. Dies gilt insbesondere für die eLib-Projekte in Großbritannien, von denen besonders jene vorgestellt wurden, die die Fragen der sog. Hybrid-Bibliotheken thematisieren. Das sind solche, die noch lange nicht virtuelle Bibliotheken sind (und es vermutlich auch nur begrenzt sein wollen), aber sich schon seit einiger Zeit weg bewegt haben vom Bild der traditionellen Bibliothek. Sieht man davon ab, dass diese Positionierung eine vorrangig definitorische ist, so bleiben aber die Fragen, die auch Bibliotheken hierzulande beschäftigen: Erhaltung des Zugriffs auf die digital vorliegenden Publikationen, Entwicklung und Vermarktung neuer Dienstleistungen, die diese Publikationsformen nutzen sowie die Frage, wie in der Fülle der Angebote noch der Überblick bewahrt werden kann.
Die konkreten Problemstellungen und -lösungen des elektronischen Publizierens an den Hochschulen umrissen die nachfolgenden Beiträge von Michael Popien (Oldenburg), Bruno Klotz-Berendes (Dortmund), Daniel Ohst (Berlin), Beate Tröger (Essen) und Volker Henze (Frankfurt). Bedauerlicherweise musste der Beitrag von Harald Müller über eine juristische Checkliste krankheitsbedingt entfallen. Die Beiträge der anderen drehten sich um die Automatisierung der Publikationsprozesses, um Formatfragen speziell auch im Kontext von Multimedia sowie um die Langzeitarchivierung. Deutlich wurde dabei, dass insbesondere auf die wissenschaftlichen Bibliotheken viel zusätzliche Arbeit zukommen wird, wenn sie sich dieser Aufgabe annehmen - und sie sollten dies eindeutig tun.
Das Thema Konsortialverträge nahm den Vormittag des zweiten
Tages ein. Zusammen mit den nachfolgenden Firmenpräsentationen, die
technische Lösungen und Dienstleistungsangebote für den Umgang mit
den in den Bibliotheken u.U. massenhaft vorliegenden Online-Angeboten machten,
war auch dieser ein WB-lastiger Themenblock, der die Heterogenität der
Interessen und der Lösungsansätze gerade in diesem Bibliotheksbereich
deutlich zu Tage treten ließ. Ob dieses Thema gerade in solchem
Tagungskontext ergebnisorientiert diskutiert werden kann, blieb lange Zeit
offen. Glücklicherweise wiesen die Beiträge aus dem Publikum
über den vorzugsweise immanent-operativen Denkansatz der Vortragenden
hinaus - so z.B. durch Hinweise auf die Notwendigkeit, die schon Stephen
Pinfield am Tag zuvor angesprochen hatte: Entwickeln neuer aktiver, sog.
Push-Dienste, um die informationellen Mehrwerte zu nutzen, die in den
elektronischen Zeitschriftenangeboten stecken. Spezielles Marketing, um diese
neuen Angebote bekannt und ihre Nutzung für die Kunden vorstellbar zu
machen - das war eine darauf aufbauende Forderung. Bei dieser Gelegenheit
zeigte sich, welches konzeptionelle Potential noch erschlossen werden muss, um
die elektronischen Informationsangebote wirklich im Interesse der Kunden und
damit auch der Bibliotheken anwendungsorientiert weiterzuentwickeln.
Dabei ging das vom Vertreter von OCLC vorgetragene Konzept zu elektronischen
Zeitschriftenangeboten über das der Bibliotheken hinaus. Bibliotheken
übernehmen die Funktionen von Verlagen und andere Organisationen
übernehmen die der Bibliotheken - so hatte Havekost es wohl nicht gemeint.
Deutlich wird dabei allerdings, dass die funktionale Sicherheit der
Wissenschaftlichen Bibliotheken keineswegs mehr gegeben ist. Das zeigt ja auch
die Novellierung der Landeshochschulgesetze, die die UB/FHB als
universitäre Einrichtung zur Disposition der Hochschule stellen.
Vor diesem Hintergrund zeigte sich der (faktische) ÖB-Block mit seinem Schwerpunkt Marketing und Kommunikation fast schon wieder richtungsweisend. Anders als wissenschaftliche Bibliotheken müssen ÖBs ihre Dienste in der breiten Öffentlichkeit positionieren. Sie stehen - auch im Bezug auf den städtischen Haushalt - in direkter Konkurrenz zu anderen Kultur- und Weiterbildungseinrichtungen und müssen immer wieder neu ihre Leistungsfähigkeit demonstrieren. Hier sprachen Paul Ulrich (Berlin) und Marckus Kraft (Eschborn) über die Notwendigkeit, auch den WWW-Auftritt von Bibliotheken unter Marketing-Gesichtspunkten zu sehen, Frank Daniel (Köln) stellte die Diskussionsliste RABE zu Auskunftsfragen vor, deren Nutzung sicher für jede Bibliothek einen Gewinn darstellt, und Michael Braun (Hamburg) verdeutlichte die Konkurrenz von Chatten und Recherchieren bei der Nutzung der Internet-Arbeitsplätze in Öffentlichen Bibliotheken.
Ihren krönenden Abschluss fand die Tagung mit der Präsentation einer multimedialen Collage zur Benutzerforschung durch Christine Gläser (Oldenburg) und der Verleihung der InetBib-Awards ´99, einer im Vorfeld der Tagung ausgelobten Prämierung der "besten" bibliothekarischen Internet-Seiten moderiert von Michael Schaarwächter, dem technischen Betreuer (und manchmal auch Moderator) der InetBib-Liste.
Folgende Auszeichnungen wurden vergeben:
- Award für Funktionalitaet:
Kreisfahrbuecherei Celle
Aus der Laudatio von Barbara Lison: "Eine kleine fahrende Bibliothek mit umfassendem Angebot! Ausgezeichnet wird hier das beispielhafte elektronische Komplett-Paket fuer die Kunden der Bibliothek." - Award für Design:
Stadtbibliothek Stuttgart
Aus der Laudatio von Christine Glaeser: "Über Geschmack lässt sich ja vortrefflich streiten. Hier wird das Prinzip "Weniger ist mehr" ausgezeichnet." - Award für Innovation:
KVK
Aus der Laudation von Han Waetjen: "Es gibt nichts Neueres so Innovatives seit der Einrichtung des KVK. Ausgezeichnet wird hier die innovative Idee, über mehrere Kataloge und Verzeichnisse gleichzeitig zu suchen: ein Lesezeichen-Muss für professionelles Recherchieren im Internet!"
Alles in allem ein interessantes Themen- und Tagungsangebot mit einigen Highlights, das allerdings auch einige Fragen offen ließ. Z.B.:
- Warum bildet ein Thema wie die Konsortialverträge einen Schwerpunkt, obwohl nicht diese, sondern die mit ihnen verbundenen weiterführenden Fragen der Nutzung dieser Angebote (vgl. o.) viel mehr von den anwesenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bibliotheken beeinflusst werden können?
- Warum keine stärkere Berücksichtigung von besonders auch für Öffentliche Bibliotheken relevanten Themen? Diskutiert werden könnte, ob und wenn ja welche unterschiedliche Bedeutung das Internet für Bibliotheken/Informationseinrichtungen unterschiedlichen Typs hat.
- Warum waren Frauen als Vortragende so unterrepräsentiert?
Marlene Nagelsmeier-Linke, die Direktorin der UB Dortmund, hat bei Ihrer
kurzen Begrüßungsansprache zu Beginn der Tagung, nicht zu unrecht
die - rhetorische gedachte - Frage zum Kind InetBib gestellt, das nun im 4.
Lebensjahr in die Lebensphase des Bewußtwerdens und damit der
verstärkten Orientierung an den Realitäten komme.
Anders ausgedrückt: Welche Rechtfertigung gibt es heutzutage, für das
Thema Internet in Bibliotheken eine eigene Tagung zu veranstalten? Die
Weiterführung der Tradition alleine kann es nicht sein. Es müssen
noch deutlicher jene Themen in den Mittelpunkt gestellt werden, die nicht auch
bei jeder beliebigen anderen Tagung angesiedelt werden könnten.
Diesbezüglich kann der Fokus im kommenden Jahr, wenn die UB Dortmund
für den 8.-10. März 2000 nach Dortmund einlädt, sicher noch
verbessert werden.
Dessen ungeachtet bleibt allerdings auch der Umstand, dass die soziale Seite, das Wiedertreffen und Feiern, das Austauschen von Erfahrungen und von Klatsch und Tratsch ein durchaus wichtiger Aspekt der kreativen Arbeit und damit auch von Tagungen ist. Und auch dieser Teil, das sogenannte Rahmenprogramm, war bei Han Wätjen, dem federführenden Organisator in Oldenburg und seinen engagierten Kolleginnen und Kollegen in bester Hand. Ein Dank an dieser Stelle und die Bitte an die Dortmunder Kolleginnen und Kollegen, diese Tradition auch im kommenden Jahr nicht zu unterschlagen ;-). Pinfield drückte das so aus: "people, not technology, represent the important issue".
Achim Oßwald
07.05.1999